Aus Sicht von Brüssel und Berlin steht Tunesien 2021 in einem Stress-Test
16-01-2021 13:16:33
Impuls Christian Hanelt, Nahostexperte, Bertelsmann-Stiftung
15.1 Januar 2021 MagDe Paneldiskussion zu Tunesien / Arabellion,
Deutschland und die Europäische Union sind wichtige Unterstützungspartner Tunesiens. Tunesien ist integriert in alle Projekte und Initiativen europäischer Nachbarschafts-Politik - basierend auf dem EU-Tunesien Assoziationsabkommen. Seitens der deutschen Bundesregierung ist Tunesien ein privilegierter Reformpartner. Aufgrund der großen Kooperationsbereitschaft der tunesischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft finden auf allen Ebenen Projekte statt. Das europäische Engagement ist auch von dem Wunsch getrieben, dem Geburtsland des Arabischen Frühlings durch die schwierige Zeit der Transformation von einer Diktatur zu einer pluralistischen parlamentarischen Demokratie zu helfen.
Aus Sicht von Brüssel und Berlin steht Tunesien in einem Stress-Test. Denn zu den bereits bestehenden strukturellen Herausforderungen belasten nun zusätzlich die negativen Folgen der Corona-Pandemie das soziale, wirtschaftliche und finanzielle System. Besorgniserregend : Das hohe Staatsdefizit, die defizitären Sozialkassen und Staatsbetriebe, Einnahmen ganzer Wirtschaftszweige wie des Tourismus fallen aus, Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um mindestens 7 %, 22 % mehr Arbeitslosigkeit im formalen Sektor, 50 % im informellen Sektor und die illegale Migration nach Italien nimmt zu – 4000 Menschen in den letzten Monaten.
Zur Bewältigung der Corona-Krisen-Folgen setzen deutsche und europäische Geldgeber ihre Priorität auf der Sicherung der Liquidität des Staatshaushaltes sowie dem Erhalt von Unternehmen und Arbeitsplätzen.
Mit Sorge wird bei vielen Tunesien-Freunden in Berlin und Brüssel die zunehmende Parteien- und Politikverdrossenheit im Wahlvolk beobachtet. Als Gründe für diese Verdrossenheit werden notiert: Enttäuschung über eine erwartete aber dann ausgebliebende soziale und ökonomische Revolutionsdividende – kombiniert mit einem Frust über das Machtgerangel und politische Grabenkämpfe von Teilen der gewählten Verantwortlichen bis hin zu einer Blockadehaltung von Akteure des alten Systems, die wenig Interesse an der Umsetzung wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Reformen haben.
Perspektiven für Tunesien, um mit EU-Hilfe aus den Krisen herauszukommen
Eine Gesundung der Wirtschaft in den südlichen Mitgliedsländern der EU insbesondere Italiens, Frankreichs und Spaniens ist wichtig und möglich mit dem EU-Corona-Wiederaufbaufond; im Windschatten profitieren die tunesische Industrie und Landwirtschaft davon über Aufträge, Entspannung für den lokalen Arbeitsmarkt und Jobmöglichkeiten für Saisonarbeiter.
Die positive Nachricht: Die deutschen Unternehmen, die seit Jahren in Tunesien ansässig sind, investieren vor Ort weiter; davon hängen rund 60.000 Arbeitsplätze in Tunesien ab.
Wenig Perspektiven für die tunesische Wirtschaft resultiert aus einer möglichen Rückverlagerung von Lieferketten europäischer Firmen etwa aus China oder Indien. Die europäischen Nachbarn wie Tunesien sollten keinesfalls daraufsetzen, qua geographischer Nähe zwangsläufig von einer möglichen Regionalisierung der Lieferketten zu profitieren. Es gilt, generell die Attraktivität Tunesiens für ausländische Investitionen zu erhöhen. Dazu zählen als Kriterien funktionierende staatliche Institutionen und gesicherte Eigentumsrechte. Tunesien hat dat das Potential, dass Ministerien Gesetze schneller umsetzen, besser miteinander zusammenarbeiten und Genehmigungsverfahren beschleunigen können.
Die höchste finanzielle Hilfe bekommt Tunesien von der Europäischen Union - Direkte Budgethilfen gerade in der Corona-Krise sind wichtig aber sie müssen auch Anreize geben, endlich versprochene Strukturreformen umzusetzen; Finanzielle Entlastung kann eine Umwandlung von Staatsschulden in Projektgelder bewirken.
75% von Import und Export wickelt Tunesien mit der EU ab. Entscheidend wird sein, ob Tunesien seine Wirtschaft zukunftssicherer aufstellen kann, indem auch die Handelsbeziehungen zur EU neu definiert werden. Wie Tunis zum eigenen Vorteil seine Integration in den EU-Binnenmarkt verstärken kann - Erkenntnisse kann ein Austausch mit Verantwortlichen und Praktikern anderer EU-Nachbarländer, wie Marokko, Jordanien, Ukraine, Georgien und Moldau bringen.
Nach meiner Wahrnehmung waren einige Empfehlungen interessant, die georgische, ukrainische und moldawische Experten, die vorletztes Jahr öffentliche Veranstaltungen in Tunesien durchgeführt haben, an Tunesier gerichtet haben, zum Beispiel:
Jedes Land brauche einen festen Konsens von Regierung, Parlamentsmehrheit und Verbänden aus Wirtschaft und Gesellschaft, wohin sich ein Land wirtschaftlich und sozial entwickeln will und wo seine Export-Stärken liegen. Dieser Konsens definiert die Wunschliste an die Kooperationen mit der EU.
Der Landwirtschaft wurde empfohlen, eine Marke für seine zentralen Produkte -zum Beispiel als Bio Sektor- zu entwickeln und höhere Quoten für den Export von Agrarprodukten in die EU mit Brüssel zu verhandeln.
Leuchtturmprojekte, bei denen Politik und Verwaltung ihre Leistungsfähigkeit und ihren Nutzen für den Bürger unter Beweis stellen können, wäre eine gelungene bürgernahe digitale Verwaltung.
Zum Abschluss möchte ich persönlich ein aktuelles Leuchtturmprojekt vorzuschlagen: Zur Bewältigung der Corona-Pandemie könnte Deutschland Tunesien darin unterstützen, Infrastruktur zur Impfung (Beschaffung, Lagerung, Verteilung, Organisation) aufzubauen. So ein Leuchtturmprojekt könnte die Leistung von Politik und Verwaltung für den Bürger herausstellen und folglich sein Vertrauen in das System neu begründen helfen.