Einleitung des KollektivBuch: "Der arabische Frühling im Wandel..Zukunft und Perspektiven"
16-10-2022 19:13:03
Pr. Abdallah Saaf; Direktor des Zentrums für Studien und Forschung in den Sozialwissenschaften, Universität Mohamed V in Rabat.
Nach mehr als zehn Jahren erscheint es immer noch zulässig, Fragen über die Art und Weise der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umwandlungen und Pfade zu stellen, welche im Namen der Verteidigung von Freiheit, Würde, sozialer Gerechtigkeit und zum Zweck der Bekämpfung von Missständen und Bestechung, durch den "Arabischen Frühling" hervorgebracht wurde: Ging es um ungewöhnliche bzw. außergewöhnliche Dynamiken und um Ausnahmezustände, die Zäsuren sein könnten? Oder waren es nur gewöhnliche unwichtige Episoden ohne entscheidende Bedeutung in der tiefen Geschichte der Länder der Region? Oder sind es nur Momente, die angesichts der umfassenden Bewegungen und der langfristigen Trends keine übertriebene Dimension annehmen haben sollten?
Eine Reihe von Mitwirkenden an diesem Buch, die den Verlauf des letzten Jahrzehnts tief beobachtet haben, sind zu dem Schluss gekommen, dass es historische Periodisierung gibt, und dass Brüche, Zäsuren und sogar (historische) Wenden aufgetreten sind, sowie besondere Momente, die durch die "Förderung der Wandelsprozesse" gekennzeichnet waren und dann andere Momente, die Regression und sogar historische Wenden darstellen könnten, herbeigeführt durch Staatsstreiche oder Machtkontrolle, daneben auch das Auftauchen von (gewissen) entmutigenden Momente sowie Momenten des Zögerns.
Wie können wir dann unter diesen Umständen zwischen der Zeit vor und der Zeit nach dem arabischen Frühling unterscheiden? Stellen die aktuellen Ereignisse noch eine Kontinuität zu (einen weiteren Fortgang) dieser Zeit dar? Oder einen Bruch im Vergleich zu den Ereignissen von 2010? Sollten wir weiterhin Zwischenergebnisse dieser Ereignisse aus sozialwissenschaftlicher Perspektive präsentieren, was schon seit ihrem ersten Beginn mehrfach geschehen ist? (Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen, die sich fast jedes Jahr mit diesen Ereignissen befassen, und viele Bücher, die sich mit den Ereignissen des arabischen Frühlings beschäftigen und alle fünf, sieben oder zehn Jahre feierlich des arabischen Frühlings gedenken.) Sind die Spuren des "Arabischen Frühlings" zeitlich in weite Ferne gerückt? Wurden sie total aufgezehrt und von neuen Ereignissen und Handlungen vollständig überholt, die einem zeitlichen Zusammenhang und einer neuen Logik angehören? Es scheint, dass viele der Beiträge in diesem Buch die jüngsten Protestwellen (im Sudan, in Algerien, im Libanon, in Jordanien, im Irak usw.) als Fortsetzung des Arabischen Frühlings, aber auch als Sequenzen (Episoden) betrachten, die radikal unterschiedliche Momente und gesellschaftliche Strömungen von anderer Natur auslösen. Klar bleibt aber, dass der Arabische Frühling noch als Referenzereignis in der aktuellen Geschichte der Region gilt.
Dieses Buch sammelt die Beiträge, die, während einer im Mai 2021 digital organisierten Veranstaltung zur Bewertung der "Ernte" (Folgen) des "Arabischen Frühlings" und der Aussichten auf Veränderungen in der arabischen Welt präsentiert wurden. Das Buch fokussiert auf die verschiedenen Fakten, Ereignisse und Trends, die auf die eine oder andere Weise mit dem sogenannten "Arabischen Frühling" zusammen verbunden sind: Untersucht werden nur die revolutionären oder reformistischen Dimensionen seit Dezember 2010, dabei werden vor allem die neuen Kulturen des sozialen Protestes beleuchtet, die sich in der Region entwickelt haben und wird weiterhin der Versuch unternommen, die neuen Formationen sozialer Bewegungen zu verstehen, die noch heute aktiv sind, sowie die Stellung und die Rolle der verschiedenen Akteure (Abdallah Saaf) und den Aufstieg eines neuen Sozialstaates als Folge der Covid19-Pandemie ans Licht zu bringen.
Zweifellos spielten Frauen bei diesen Ereignissen eine große Rolle. Sie (die Frauen) befanden sich im Zentrum dieser gründenden Ereignisse, zuerst während ihres Ausbruchs oder später in den hier oder dort entstandenen Konfliktgebieten. Sie litten unter allen Arten von Gewalt (Entführung, Vergewaltigung, Belästigung, Frühverheiratung, sexuellen Drohungen usw.). Die Situation bleibt jedoch von Land zu Land unterschiedlich und hängt vom Grad der Säkularisierung der Gesellschaft sowie von dem Gewicht der Traditionen ab. Nach dem revolutionären Moment stellten Analysten fest, dass, egal wie wichtig die Rolle der Frau in dieser turbulenten Zeit war, Frauen aus Entscheidungspositionen entfernt wurden, sobald das alte Regime zurückkehrte, und dass sogar eine Rückkehr zu alten Gewohnheiten verzeichnet wurde. Auf jeden Fall scheint die Frau ein neues Bewusstsein für ihre eigene Macht (ihren eigenen Einfluss) entwickelt zu haben (Dr. Elham Manea).
Die Ereignisse von 2010-2011 und diese, die in der jüngsten Zeit im Rahmen der Protestwellen im Sudan, in Algerien, im Irak und im Libanon ausgebrochen sind, haben die Rolle der Jugend in der Region besonders hervorgehoben. Es wurde deutlich, dass der Charakter des „jungen Mannes“ in der ganzen Region nicht mehr von Angst heimgesucht wurde. Dies trug zu einem tiefgreifenden Wandel der Szene bei, zusammenverbunden mit dem Übergang vom extremen Autoritarismus zur Machtverteilung unter mehreren Polen oder Akteuren und mit der Geburt einer zunehmend freien Presse, die offizielle Berichterstattung und Ansichten zu kritisieren begann, zusätzlich wurde die Jugend eine Verkörperung dieses Idealbildes der Entwicklung des Individuums, neue Mechanismen für Reformen und zur Bekämpfung sozialer Fragilität und Chancenungleichheit wurden zudem entwickelt ... (Othman Lahiani).
Das Rätsel um die Bedeutung, die die islamischen Akteure trotz der Distanz, die sie zu Beginn in Bezug auf die Ereignisse des arabischen Frühlings einnahmen, bleibt aber bestehen und muss erklärt werden. Die Mehrheit der Mitwirkenden an diesem Buch sind sich einig über ihre durch die Wahlen verankerte einflussreiche Stellung, die sie auf der Ebene der Reform besetzen, da sie in ihren Reihen am besten organisiert und in der Gesellschaft am stärksten verwurzelt sind, auch aufgrund ihrer Neigung zur Dominanz, die in der gesamten arabischen Region beobachtet wurde.. (Dr. Housamedden Darwish;
Dr. Rainer Hermann).
Es wurde festgestellt, dass ein klassisches Modell wie folgt reproduziert wurde: die Entstehung einer klaren Trennlinie zwischen den revolutionären Strömungen gegenüber den Anhängern der Konterrevolution aller Art und das Auftreten reformistischer Strömungen neben konservativen Strömungen, die den Status quo nicht aufgeben wollen. Aber nicht nur die Organisatoren der Protestbewegungen oder die Aktivisten und Berufsrevolutionäre sind diejenigen, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen, denn die letzten (Aktivisten und Berufsrevolutionäre) sind vor allem das Ergebnis einer Kombination mehrerer Faktoren und Umstände, und sind auch ein tiefgreifendes Ergebnis der sozialen Strukturen und der darin stattfindenden Umwandlungen... (Dr. Yassin Bakri; Dr. Amal Obeidi)
In diesem Zusammenhang vergessen die Analytiker nicht, beim Spiel sehr starker äußerer Einflüsse mit starken "interventionistischen Tendenzen" Halt zu machen, insbesondere das Verhältnis äußerer Kräfte zu den Ereignissen des arabischen Frühlings, wie z.B. die Europäische Union, die Vereinigten Staaten von Amerika, der Türkei, Russland, den Golfstaaten und China... Was aber festzustellen ist: Die Dialektik von Innen und Außen bleibt weit davon entfernt, eine Einbahnstraße zu sein. Das Innen hat trotz allem das letzte entscheidende Wort (Dr. Christian-P. Hanelt).
Der Funke des Arabisches Frühlings wird oft der urbanen und gebildeten Mittelschicht zugeschrieben. Der Beitrag (diese wissenschaftliche Arbeit), der sich mit dem Projekt beschäftigt, das Entwicklungsmodell in Tunesien durch die Umsetzung von Wirtschaftsreformen zu verändern, gilt als herausragende Darstellung für die aufeinanderfolgenden Versuche, den Arabischen Frühling auf der Ebene der politischen Wirtschaft zum Scheitern zu bringen. Die alten Regime haben ihre Widerstandsfähigkeit bewiesen. Es ist ein Text (ein Werk), der auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht, wie die alten herrschenden Mächte fast unausweichlich (unvermeidlich) ihre Präsenz und ihren Einfluss zurück gewinnen könnten.. (Dr. Sghaier Salhi).
Aus diesem Grund erwähnen viele Autoren (dieses Buches), dass in Zukunft gefährlichere Erschütterungen und Ausbrüche als die bisher aufgetretenen entstehen könnten. Dies sind Erschütterungen, die, ihrer Meinung nach, intensiver, hartnäckiger und weniger kompromissbereit zu sein scheinen. Das bedeutet, dass Enttäuschungen, Gefühle der Frustration und Reue über das, was passiert ist, so stark geworden sind, dass die bevorstehende Gewalt beispiellos werden könnte. (Interview mit Dr. Moncef Marzouki).
Es bleibt, dass sich die Arbeitsergebnisse mit der aktuellen Realität der Region befassen und was sie über die Zukunftsaussichten ankündigen, die es ermöglichen, die unterschiedlichen Verhältnisse (Bedingungen) zu verstehen, denen die Länder der Region ausgesetzt sind.
