Maghreb: Absage an das Blockdenken
11-05-2022 19:01:26
Quelle: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war die Hoffnung im Westen groß, dass auch politische Führungen in Afrika und dem Nahen Osten das Vorgehen der transatlantischen Verbündeten mittragen würden. Doch die Länderanalysen offenbaren, wie sehr sich die Wahrnehmungen und Interessenlagen dieser Akteure von denen der westlichen Staatengemeinschaft unterscheiden.
Artikel von Isabelle Werenfels
Die Maghreb-Staaten sehen den Krieg in der Ukraine nicht als „ihren“ an, obwohl sie die dramatischen Auswirkungen auf Wirtschaft und Nahrungsmittelversorgung zu spüren bekommen. Der Westen offenbare Doppelstandards, und zwar mit Blick auf Interventionen (wie die US-Invasion im Irak oder den Krieg im Jemen), auf die Parteinahme für Israel im Nahostkonflikt und auf die rassistische Bevorzugung ukrainischer Flüchtlinge gegenüber jenen des globalen Südens. In solchen Sichtweisen unterscheiden sich Regierungen und Zivilgesellschaften kaum. Gerade in Algerien und Tunesien ist die russische Perspektive stark präsent, in der regierungsnahen Presse wie in den sozialen Medien: Nicht selten gilt der ukrainische Präsident als Provokateur und Aggressor. Derlei Reaktionen gründen in tiefsitzenden antiimperialistischen und antiamerikanischen Reflexen, wobei Russland paradoxerweise nicht als imperialistisch wahrgenommen wird.
Kein Maghreb-Staat hat sich den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Unterschiede im Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen lassen sich mit kolonialen Erfahrungen, geopolitischen Interessen und innenpolitischen Prioritäten erklären. Marokko etwa, das als prowestlich gilt, blieb sowohl der Abstimmung zur Verurteilung des russischen Angriffs fern als auch derjenigen zum Ausschluss aus dem Menschenrechtsrat. Marokkanische Medien begründeten diese „positive Neutralität“ mit Russlands Status als Vetomacht im Sicherheitsrat: Rabat will aufgrund des Konflikts um die Westsahara Moskau nicht verärgern. Algerien wiederum enthielt sich in der ersten Abstimmung und votierte in der zweiten gegen Russlands Ausschluss. Wegen der traumatischen Erfahrung mit der französischen Kolonialherrschaft ist der antiwestliche Reflex in Algerien besonders ausgeprägt. Das ehemalige Schwergewicht unter den blockfreien Staaten blickt auf Jahrzehnte enger militärischer Kooperation mit Russland zurück und unterhält eine strategische Partnerschaft mit Moskau. Gleichwohl hofft Algerien, Russland als Öl- und Gaslieferanten für Europa teilweise zu ersetzen. Seine Abstimmungsentscheidungen begründete Algier mit der Bindung an die VN-Charta und der Relevanz unabhängiger VN-Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen. Tunesien schließlich, dessen Präsident immer wieder Einmischung von außen beklagt, aber wirtschaftlich auf europäische Unterstützung angewiesen ist, schloss sich auf westlichen Druck dem Votum gegen den Angriff an, enthielt sich jedoch in der Abstimmung zum Menschenrechtsrat.
Das Signal der Regierungen ist deutlich: Man lässt sich nicht in Blöcke zwingen, denkt in Kategorien kurzfristigen Nutzens und ist in erster Linie auf eigene Souveränität bedacht. Europa ist zwar nach wie vor engster Kooperationspartner, aber sein Einfluss auf außenpolitische Positionierungen im Maghreb schrumpft zusehends.