Panorama



Vorwort: Nachdenken in der Zeit der großen Veränderungen

16-10-2022 18:40:08

Vorwort zum Buch: "Der arabische Frühling im Wandel..Zukunft und Perspektiven"

Von Moncef Slimi

Vorsitzender des Deutsch- Maghrebinisches Institut für Media und Kultur

(MagDe)

Der vorliegende Sammelband beruht auf den Eindrücken und Erfahrungen mehrerer Jahre. In ihnen spiegeln sich die historischen Transformationen, die die arabische Welt in den vergangenen zwölf Monaten durchlief und deren Konsequenzen das tägliche Leben so vieler Menschen der MENA-Region auf fundamentale Weise beeinflussten.

Die Vorbereitungen für das ursprünglich als physische Veranstaltung geplante Symposium im Mai 2021 - Anlass: der 10. Jahrestag des so genannten "Arabischen Frühlings" - begannen im September 2020. Damals hatten wir gehofft, die Corona-Pandemie wären bis dahin überwunden Doch die Pandemie, deren Auswirkungen ausnahmslos alle Menschen betrafen und die Hunderttausende das Leben kosteten, zwangen uns, das Treffen in digitaler Form zu organisieren. Für unser Team war das eine erhebliche logistische und technische Herausforderung, der sich insbesondere die jungen Menschen unseres Teams erfolgreich stellten. Sie investierten hunderte Stunden harter Arbeit zu investieren, an deren Ende dann eine erfolgreiche Veranstaltung stand.

Mit unserem Symposium wollten wir uns mit ganz unterschiedlichen Aspekten der arabischen Revolutionen und deren Auswirkungen befassen. Die Ergebnisse sollten in das nun vorliegende, auf Arabisch und Deutsch verfasste Buch einfließen. An uns selbst stellten wir den Anspruch, nicht bloß eine weitere Variante der zahlreichen Seminare und Konferenzen zu organisieren, die rund um den zehnten Jahrestag des "Arabischen Frühlings" stattfanden. Gewiss verdient dieses außergewöhnliche Jahrzehnt voller Träume und Hoffnungen, zusammengefasst in der Parole "Freiheit, Gerechtigkeit und Würde", alle Aufmerksamkeit. Doch wollten wir uns auch neuen, bislang weniger studierten Aspekte dieses Jahrzehnts widmen.

Die Vielzahl der Autorinnen und Autoren brachte es mit sich, dass ganz unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen artikuliert wurden.

Die Organisation dieses Symposiums wie auch des nun vorliegenden Sammelbandes sah sich zahlreichen Schwierigkeiten und Herausforderungen gegenüber, beginnend mit der Corona-Pandemie und deren Auswirkungen, über die Ereignissen und die Unruhen in einer Reihe arabischer Länder, - zuletzt die besorgniserregende politische  Entwicklung in Tunesien, der sogenannten in Tunesien, der sogenannten "Wiege" des Arabischen Frühlings  sowie das politisch-militärische Beben, das der Krieg in der Ukraine auslöste.. Diese Entwicklungen verdeutlichten noch einmal die Brisanz der Fragen, die in dem Symposium gestellt wurden. Nicht nur die MENA-Region durchläuft eine Zeit des Wandels, die gleichermaßen auf kritische Reflexion und einfache Hoffnung angewiesen ist.

Dabei geht es also nicht nur um vorübergehende Ereignisse, sondern um tiefgreifende historische Transformationen und Veränderungen in Aufbau und Kultur der zeitgenössischen Gesellschaften. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie, neue Kriegsformen sowie gesellschaftlichen Phänomene wie Populismus und Extremismus haben aufgezweigt, wie wenig selbstverständlich die Lebensstile, wirtschaftlichen und politischen System der vergangenen Jahre und Jahrzehnte sind.Am dramatischsten aber dürften sich die Veränderungen auf die derzeit entstehenden Demokratien der MENA-Region auswirken wie auch auf jene Länder, deren Situation von Krieg und Krisen geprägt ist.

Das Nachdenken über Phänomene wie Populismus, konterrevolutionäre Bewegungen und Extremismus mit seinen rechten, linken, religiösen und nationalistischen Orientierungen ist ein kulturell-intellektueller Prozess, der sich durch Intensivierung und Schnelligkeit der digitalen Kommunikation zwischen Individuen, Gruppen und Gesellschaften kennzeichnet. Zusätzliche Dynamik erhalten die derzeitigen Veränderungen durch die schweren Turbulenzen der globalisierten Wirtschaft und die auf ganz neuen Verhältnissen beruhenden kollektiven Beziehungen der Menschen und Bevölkerungen, geprägt durch Protektionismus und Fremdenfeindlichkeit gleichermaßen. Auch der Klimawandel und dessen unheilvolle Auswirkungen dürften künftige Lebensverhältnisse weltweit prägen.

So stehen wir vor schnelllebigen Ereignissen, deren Auswirkungen sich kurz- wie langfristig in zahlreichen Phänomenen und Entwicklungen auf staatlicher und individueller Ebene sowie in den Machtverhältnissen des globalen politischen Systems zeigen.

In dieser Zeit rapider Umwandlungen wächst das Bedürfnis nach Reflexion und Innehalten. Nur so vermögen wir besser zu verstehen, in welcher Situation wir uns befinden und welchen politischen, ökonomischen und kulturellen Auswirkungen wir derzeit unterliegen.  Daher ist es wichtig, sich mit zukunftsfähigem intellektuellem und ethischem Rüstzeug vertraut zu machen.

  1.        Dies sind die Anliegen, denn sich das Deutsch- maghrebinisches Institut für Media und Kultur sowie unsere Partner in Deutschland, Europa und der Maghreb-Region verpflichtet fühlen. Zugleich sind wir uns bewusst, wie wichtig Vitalität und Kreativität jedes und jeder einzelnen von uns ist.

  2.        Zudem streben wir eine ganzheitliche Sichtweise an, die die Auswirkungen der großen Transformation lokal, regional und global analysiert. Darum richten wir uns - mit dem Symposium ebenso wie mit dem Sammelband an ein gleichermaßen arabisches, deutsches und europäisches Publikum.

  3.        Drittens lassen wir uns vom Gedanken der Vielfalt leiten, die aus dem Dialog mehrerer Disziplinen, sowie mehrerer Generationen und deren jeweiliger Lebenserfahrungen entstanden ist. Den Pluralismus der wissenschaftlichen Kompetenzen, der praktischen und theoretischen, politischen und kulturellen Erfahrungen, wie auch die Weite des intellektuellen Horizonts unserer Partner und Partnerinnen empfinden wir als außergewöhnlich inspirierend.

  4.        Viertens lassen wir uns von menschlichen und universellen Werten motivieren, die unserem individuell wie kollektiv Sinn geben. Es sind dies Werte wie Freiheit, Pluralismus, Menschenrechte, Toleranz, Demokratie, Solidarität und Teilhabe sowie die Sorge um den Erhalt der natürlichen Ressourcen. Auf dieser Grundlage, so unsere Hoffen, lässt sich Egoismus, Ausbeutung, Tyrannei und Fanatismus wirksam entgegentreten.

Dieser Vision entsprechend versuchen wir in dem vorliegenden Band neue Ideen zur Zukunft der Demokratie in der arabischen Welt, neue politische und soziale Trends zu identifizieren. Ebenso setzen wir uns mit den Auswirkungen des politischen Islam auseinander. Nicht zuletzt gilt unsere Aufmerksamkeit dem Verhältnis zwischen Europa und dem Westen auf der einen und der MENA-Region auf der anderen Seite. Zugleich fragen wir, welche Verantwortung der Westen gegenüber, der der arabischen Welt hat.

Zu dieser intellektuellen Arbeit gehört es auch, die künftige Rolle von Jugendlichen, Frauen und sozialen Gruppen zu erörtern - all jenen also, die sich ganz wesentlich für im Kampf um Gerechtigkeit, Würde sowie im Kampf gegen Korruption engagieren. Wir bedauern, dass diese Gruppen während des Jahrzehnts des „Arabischen Frühlings“ besonders großem Druck ausgesetzt waren, die durch die dramatischen Veränderungen der Kommunikationsformen, der Digitalisierung und den Klimawandel zusätzlich verschärft wurden.

 

 


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