"Zukunft Europas liegt auch im Maghreb"
07-03-2017 07:18:31
Der Maghreb sei ein wichtiger Partner für Europa, sagt Jack Lang, Präsident des Kulturinstituts der Arabischen Welt in Paris - und zwar nicht nur wegen Terrorbekämpfung und Migration. Im heute.de-Interview warnt er davor, ihm mit Angst oder Hochmut zu begegnen.
heute.de: Warum ist der Maghreb so wichtig für Europa?
Jack Lang: Der Maghreb zeigt Europa eine Art, das Leben anzupacken, eine Vision. Das alles bereichert unsere Kultur. Unsere europäische Kultur ist rationeller und basiert auf altherkömmlichen Traditionen und Glauben. Und ich denke, die Kulturen des Maghreb und der verschiedenen europäischen Länder geben eine gelungene Mischung.
heute.de: Heute existiert auch eine wichtige wirtschaftliche Zusammenarbeit ...
Lang: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist aus rechtlichen und technischen Gründen recht unterschiedlich. Die Kooperation zwischen Marokko und der EU ist besonders. Da sind Verträge, die ausgehandelt wurden. Und natürlich gibt es wirtschaftliche und menschliche Verbindungen und auch Austausche im Bereich der Bildung und der Wissenschaft zwischen den drei Ländern und der EU.
heute.de: Tunesien, Algerien und Marokko verändern sich sehr schnell, sind sehr dynamisch. Wie sehen sie die Zukunft der einzelnen Länder?
Lang: Tunesien ist die Demokratie. Das Land hat es geschafft, eine Demokratie aufzubauen, mit einer sehr liberalen Verfassung, politischen Parteien, freien Wahlen. Auf der anderen Seite hat es große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Es ist schwieriger, eine Demokratie aufzubauen als eine Diktatur.
Algerien ist in einer anderen Situation. Das liegt unter anderem am persönlichen Gewicht des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika. Die Geschichte ist auch anders. Da war der Algerienkrieg, dann sehr schwere Zivilkämpfe. Heute sucht Algerien Stabilität. Auf der anderen Seite muss das Land sich öffnen und sein System erneuern.
In Marokko haben wir einen aufgeklärten König. Er hat unglaublich viel für sein Land getan, seit er an der Macht ist: für die wirtschaftliche Entwicklung aller Regionen, die Kunst, die Bildung ... Marokko definiert sich als afrikanisches Land und knüpft sehr enge Bindungen mit allen afrikanischen Ländern. Natürlich hat Marokko auch große Probleme. Es muss noch viel für bessere Bildung getan werden, und um soziale Ungerechtigkeiten zu vermindern.
heute.de: In Algerien ist es komplizierter. Präsident Bouteflika ist 80 Jahre alt. Wie sehen Sie die Zeit nach ihm?
Lang: Algerien hat eine sehr schwierige Situation geerbt. Bouteflika hat versucht, dem Land Frieden zu bringen. Das hat er geschafft. Heute ist Algerien ein friedliches Land. Aber es bräuchte sicher eine neue Dynamik. Ganz Europa muss mit Algerien neue kreative und aktive Bündnisse schließen.ARTIKEL
heute.de: Viele fürchten einen neuen Bürgerkrieg, wenn Bouteflika nicht mehr da ist.
Lang: Ich kann nichts vorhersehen. Ich glaube aber, dass die Algerier von Gewalt geheilt sind. Sie streben nach Fortschritt und neuen Freiheiten, nach Veränderung. In Algerien mangelt es nicht an Talenten. Bouteflika - ich mag ihn und kenne ihn schon lange - ist ein Mann, der sehr viel für sein Land getan hat. Doch es wird der Tag kommen, an dem er seine Funktionen aufgeben werden muss. Aber es gibt in Algerien viele fähige Männer und auch Frauen. Ich glaube stark daran, dass die Zukunft dieser Länder in den Händen der Frauen liegt.
heute.de: Die Zukunft liegt auch in den Händen einer neuen Generation, oder?
Lang: Die Jugend fühlt sich oft ein wenig vernachlässigt. Dabei sind die Länder sehr jung. Vor allem Algerien. Vielen fehlt die Perspektive.
heute.de: In Europa hat man oft einen negativen Eindruck von den drei Maghreb-Staaten. Die Länder selber sehen sich aber anders, sind stolz, die Lokomotive Afrikas zu sein. Können sie diese Rolle der Brücke zwischen Europa und Afrika wirklich übernehmen?
Lang: Rein geografisch gesehen ist das eine Selbstverständlichkeit. Sie sind das Bindeglied zwischen Europa und dem subsaharischen Afrika. Marokko hat daraus schon Konsequenzen gezogen, der König hat sich sehr stark in Richtung Afrika engagiert. Ich denke, Algerien wird denselben Weg einschlagen. Für Tunesien gibt es natürlich das Libyen-Problem, das man nicht leugnen kann. Die instabile Situation in Libyen ist ein wirkliches Hindernis für Tunesien.
Es ist falsch, diese Länder mit Misstrauen, Angst oder Hochmut zu betrachten. Es sind Länder voller Leben, mit brillanten Einwohnern. Die Zukunft Europas liegt auch teilweise im Maghreb. Und diese Länder brauchen Europa. Es ist dumm, die einen gegen die anderen aufzuheizen. Wir brauchen uns gegenseitig.
Das Interview führte Verena von Derschau, Paris
Quelle: ZDF Heute
Jack Lang.. ist Präsident des Kulturinstituts der Arabischen Welt (IMA) in Paris. Er war in den 80er Jahren französischer Kulturminister unter dem damaligen sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und später Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Parlament sowie Bildungsminister. Seine zahllosen Reden, Bücher und Zeitungsartikel, in denen er unermüdlich für die europäische Einigung warb, haben ihm viele Preise und Ehrungen eingebracht.