Der Experte Kersten Knipp zum arabischen Frühling.."Reformen-ein unvollendbares Projek"
06-12-2017 13:10:43
In einem Interview für Media MagDe erklärt der Experte Kersten Knipp*der Autor des Buches: "Nervöser Orient", seine Wahrnehming zum arabischen Frühling und die schwierigen Fragen über der Reformen und die dramatischen Entwicklungen in der Maghreb und Mashrek Regionen.
Frage1: Nach zwei Jahrhunderten von kultureller und religiöser Reformversuche sehen sich die arabischen Länder mit turbulenten und schmerzhaften oder dramatischen politischen Veränderungen konfrontiert; Inwieweit spielt die abgebrochene kulturelle und religiöse Erneuerung eine Rolle in den Turbulenzen und politischen Unruhen der arabische Welt?
Knipp: Arabische Selbstkritik gibt es in der Moderne ja bereits seit zwei Jahrhunderten. Sie begann womöglich mit Rifaa al Tahtawi, der 1827, knapp 30 Jahre nach der Eroberung Ägyptens durch Napoleon, auf Einladung der französischen Regierung eine ägyptische Delegation nach Paris führte, um die französischen Zivilisation zu studieren. Die Reise dokumentiert, wie sehr die Ägypter - allgemeiner gesagt: die Araber - die Spannung zwischen Tradition und Moderne, Ost und west, empfanden. Dies hat eine gewaltige Kultur der Selbstkritik arabisch-muslimischer Selbstkritik ausgelöst, von Mohammed Abduh, dem ägyptischen Mufti bis etwa dem syrischen Dichter Nizar Qabbani, der in seinem Gedicht "Randbemerkungen im Notizheft des Desasters" aus dem Jahr 1968. "Ich verkünde euch, meine Freunde, / den Tod der alten Sprache und der alten Bücher", beginnt das Gedicht. Was folgt , ist nichts anderes als eine Aufforderung zum eigenständigen Denken. Seinem Aufruf folgen heute die Akteure der Revolutionen von 2011, genauer: diejenigen, die davon übriggeblieben sind. Warum sie so wenig Erfolg haben? Weil die Moderne, auf die sie hofften, weder politisch noch ökonomisch ihre Verheißungen eingelöst hat. An die Stelle der Demokratie traten konfessionell oder säkular gefärbte Diktaturen und Gewaltherrschaften. Insbesondere die säkularen Autokraten - M. Gaddafi, S. Hussein, h. al-Asad, um nur ein paar zu nennen, verrieten die säkularen Ideen. Wenn Potentaten wie diese - angeblich - den Säkularismus verkörpern - was will man von diesem Säkularismus dann erhoffen?
Frage.2.Wenn junge Menschen auf gewählte demokratische Politik und Institutionen reagieren, kann man sagen, dass Politik gegen die Hoffnungen und Ideen junger Menschen steht? Wie kann eine Ehe zwischen neuen Formen von Mobilität und Ausdruck unter jungen Menschen und politischen Institutionen hergestellt werden?
Knipp: Die Antwort ist letztlich eine Frage der Macht: Sind die Machthaber im arabischen Raum bereit, auf die Forderungen und Vorstellungen der jungen Menschen einzugehen? Die bisherigen Erfahrungen nach 2011 fallen sehr ernüchternd aus. Tunesien ist das einzige Land, das sich politisch reformiert hat, das, nachdem es die Epoche Ben Ali überwunden hat, zu einer demokratischen Erneuerung fand. Überall sonst sieht es ernüchternd aus: in Ägypten hat sich eine Regierung etabliert, die auf Menschenrechte nichts gibt, die säkulare und religiöse Opponenten gleichermaßen unterdrückt. Es ist riskant, direkte Linien zu ziehen. Aber die Vermutung, der jüngste Terroranschlag auf dem Sinai - ein verabscheuenswürdiges Verbrechen, dessen Verantwortliche vor Gericht gehören - hätte zumindest in dieser Form nicht stattgefunden, hätte sich die Regierung auf ernsthafte Reformen eingelassen. Noch viel deprimierender fällt die Entwicklung in Syrien aus. In Libyen hingegen halten Clans mit Mafia-ähnlichen Strukturen das Land in Atem. Unter den konfessionellen Regime sticht Saudi-Arabien weiterhin mit besonderer Härte gegenüber Kritikern (der bekannteste ist Raif al-Badawi) hervor. Immerhin: Wenn Kronprinz Mohammed bin Salman es ernst meint mit seiner Ankündigung, den sunnitischen Islam wieder zu seiner traditionellen, sprich: liberaleren Form zurückzubringen - dann wäre das ein Unternehmen, das mittelfristig enorme Auswirkungen auf die sunnitische und indirekt auch schiitische Welt hätte.
Frage3.In einer modernen Gesellschaft wie der deutschen Gesellschaft, gibt es junge Tunesier aus einem relativ modernen Land, die unter dem Einfluss radikaler salafisten und islamischer Strömungen radikalisiert werden. Wie erklären Sie dieses Phänomen?
Knipp: Mir scheint, es kommen mehrere Faktoren zusammen, die im Übrigen nicht nur für Tunesier gelten, sondern für Jugendliche aus dem gesamten arabischen Raum. Vergleicht man die Generation der Dschihadisten des Jahres 2001 (der Angriffe auf die USA) mit der heutigen, fällt eines auf: Das Bildungsniveau der Terroristen hat enorm abgenommen. Die Attentäter von 2011 waren vielfach studierte junge Männer. Die Attentäter des Bataclan hingegen waren Kleinkriminelle, Hilfsarbeiter und Arbeitslose. Anis Amri, der Mörder von Berlin, war Sozialhilfebetrüger und Drogenhändler. Kurzum: ein sozial deplorables Milieu, geprägt durch Unbildung und die Unfähigkeit, den Anforderungen einer Leistungsgesellschaft zu genügen. Es gibt selbstverständlich Pendants in den europäischen Aufnahmegesellschaften - man denke etwa an das Drogenmilieu oder auch die Rechtsradikalen. Ein Teil der arabischstämmigen Jugendlichen aus diesem Milieu driftet ab in die fundamentalistische oder gar dschiahdistische Szene - letztlich eine Ersatzwelt.
Frage 4. Wie die Salafismus oder Dschihad für einige junge Muslime in Deutschland / Europa attraktiv wirkt?
Knipp: Der Fundamentalismus entspricht voll und ganz den Bedürfnissen dieser verlorenen jungen Männer (und teils auch Frauen). Es ist ein Milieu, das äußerst geringe intellektuelle Anforderungen stellt und kaum an den Intellekt appelliert. Stattdessen bietet es eingeordnetes Weltbild mit klaren Grenzen zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse. Die Mühe der Differenzierung muss man sich hier nicht machen, es genügt, einige eingängige Parolen nachzuplappern. Zudem verheißen diese Kreise das große Abenteuer, verbunden mit emotionaler Erfüllung. Gehen junge Dschihadisten etwa nach Syrien, erfahren sie dort eine Macht, die sie unter normalen Umständen niemals erlangt hätten. Das kriminelle Milieu, das dort herrscht, erfährt höhere pseudoreligiöse Weihen, in denen schlimmste Verbrechen (Vergewaltigung, Folter, Sadismus jeder Art) legitimiert scheinen. Für eine ganze Reihe dieser aus der Welt gefallenen Menschen ist das offenbar verlockend.
Frage 5.Die Aktuelle Tunesien und seine Demokratie wird oft von jungen Tunesiern kontestiert. Und wir können die Auswirkungen der Ernüchterung der tunesischen Jugend beobachten, sogar im Alltag in Deutschland und Europa; insbesondere zu den Themen Emigration und Sicherheit. All dies erschwert die Aufgabe für diejenigen, die den demokratischen Übergang und die wirtschaftliche Entwicklung in Tunesien unterstützen wollen; Wie kann man dann die deutsche Öffentlichkeit von diesem Paradoxon überzeugen, damit es die junge tunesische Demokratie nicht verfehlt?
Knipp: Mir scheint, zumindest in den gebildeten Kreisen und natürlich auch in der Politik ist man sich dieses Problems durchaus bewusst. Das grundlegende Problem scheint mir zu sein, dass ein einzelnes Land wie Deutschland mit der Hilfe überfordert ist. Deutschland hat zwar Ausbildungsinitiativen in Tunesien gestartet, aber die richten sich nur an einen kleinen Teil der jungen Tunesier. Auch die politische Bildung wendet sich nur an wenige. Man hat allerdings die Hoffnung, dass diese wenigen als Multiplikatoren fungieren, über die das Wissen über Rechtsstaat und Demokratie auch weitere Kreise erreicht. Das grundlegende Problem ist allerdings ein ökonomisches: Solange junge Menschen keine Arbeit und keine Perspektiven haben, haben sie keinerlei Grund, sich für ihr Land sonderlich zu engagieren. Wie aber bringt man ein ganzes Land in Arbeit? Deutschland ist damit überfordert, allenfalls die gesamte EU kann hier Unterstützung leisten. Letztlich muss die Entwicklung aber in Tunesien selbst stattfinden. Junge Tunesier, die in Europa studieren, könnten einen Beitrag leisten, ihr Land zu entwickeln.
Frage.6. Wie kann es in der arabischen Welt in einem Kontext, der durch den Aufstieg des Islamismus und der salafistischen und konservativen Tendenzen geprägt ist, Demokratie als moderne Form des politischen Lebens geben, die Herausforderungen der Jugend besiegen und gewinnen?
Knipp: Der Schlüssel liegt in der Ökonomie. Es braucht eine ökonomische Entwicklung in diesen Ländern. Ebenso braucht es aber auch vermehrte Bildung, ein waches kritisches Bewusstsein, das - ganz im Sinn Nizar Qabbanis - auf Distanz zu überkommenen Gewissheiten geht, das sich mit Formeln und Floskeln der Vergangenheit nicht zufrieden gibt. Natürlich gibt es viele Tunesier, die im - auch intellektuellen - Aufbruch begriffen sind. Dieses Denken muss aber Standard werden, möglichst breite Kreise erfassen. Das erfordert erhebliche Investitionen in die Bildung. Und diejenigen, die die entsprechenden Bildungsanstrengungen auf sich nehmen, sollten auch auf materiell sichere Zukufnt hoffen können. Allerdings ist diese nur EIN Effekt einer grundsätzlichen, allumfassenden Modernisierungsanstrengung, die die gesamte arabische Welt einschließen sollte. Allerdings nicht nur sie, sondern die gesamte Welt. Denn wie sagt der Philosoph Jürgen Habermas: Die Moderne ist ein grundsätzlich nicht zu vollendendes Projekt.
Interview geführt von Media MagDe Team
* Dr. Kersten Knipp ist Journalist und Autor mit breiter Erfahrung in Internet, Zeitung, Radio, Fernsehen und Moderationen. Seit 15 Jahren schreibt er über internationale Politik und Kultur. Zunächst schrieb er über romanische Länder. Vor zehn Jahren begann er, Arabisch zu lernen. Seitdem schreibt er hauptsächlich über die Welt zwischen arabischer Halbinsel und dem Maghreb. Er ist überzeugt, dass die Region ihre massiven Probleme nur durch eine liberale Politik lösen kann Darum konzentriert er sich vor allem auf Politiker, Intellektuelle und Künstler, die liberale Positionen vertreten. Er schreibt über sie, spricht mit ihnen und verschafft ihnen Gesicht und Stimme in westlichen Medien.