Panorama



Deutsche Sicht: Rechte und Pflichten

20-10-2023 21:26:53

Das Selbstverteidigungsrecht Israels ist unbestritten. Die Bevölkerung Gazas muss jedoch geschützt werden – auch Deutschlands Einsatz ist gefragt.

Bewaffnete Kämpfer der Hamas sowie des Islamischen Dschihads in Palästina (PIJ) stürmten am 7. Oktober den Grenzzaun von Gaza nach Israel, eroberten israelische Militärposten, drangen in israelische Ortschaften und Kibbuze im Grenzgebiet ein, töteten brutal Hunderte Menschen und verschleppten 199 Geiseln in den Gazastreifen. Seitdem feuern die Hamas und andere militante Gruppen Tausende Raketen aus Gaza auf Israel, die wahllos Menschen töten.

 

Nach Beginn der israelischen Luftangriffe auf den Gazastreifen am Tag nach dem Terrorangriff drohte die Hamas, jedes Mal eine Geisel zu töten, wenn Israel ohne Vorwarnung Wohnhäuser bombardiere. Insgesamt kamen durch Raketenbeschuss und Massaker der Hamas und des PIJ nach israelischen Angaben mindestens 1 300 Israelis und ausländische Staatsangehörige ums Leben.

 

Regierungschef Benjamin Netanjahu rief den Kriegszustand aus. Ziel der nun folgenden Militäroperation sei es, Vergeltung zu üben und die militärischen Kapazitäten der Hamas in Gaza vollständig zu zerstören. In Folge der israelischen Luftangriffe kamen nach palästinensischen Angaben rund 2 750 Menschen im Gazastreifen ums Leben. Die Anzahl der Verschütteten, die aufgrund mangelnden schweren Geräts und anhaltender Luftangriffe nicht geborgen werden können, ist jedoch unbekannt. Zudem verhängte Israel eine komplette Abriegelung des Gazastreifens und setzte die Lieferung auch lebenswichtiger Güter in den Gazastreifen aus. Weder Lebensmittel noch Strom, Treibstoff, Medikamente oder Trinkwasser können seither eingeführt werden. Aus diesem Grund ist das einzige Elektrizitätswerk im Küstenstreifen abgeschaltet und die öffentliche Stromversorgung zusammengebrochen – mit katastrophalen Folgen insbesondere für die Gesundheits- und Trinkwasserversorgung.

Am 15. Oktober kündigte Israel an, zumindest in Teile des südlichen Gazastreifens wieder Trinkwasser zu liefern. Dies wurde bislang jedoch noch nicht bestätigt. Zudem würden dennoch große Bevölkerungsteile auf Trinkwasserlieferungen durch Lkw angewiesen bleiben. Schon vor der aktuellen Zuspitzung waren rund 1,3 Millionen Menschen im Gazastreifen – vor dem Hintergrund der Hamas-Herrschaft und der seit 2006 andauernden Abriegelung des Gebiets – auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Bedarf an humanitärer Unterstützung nimmt derzeit rasant zu.

 

Am 13. Oktober forderte die israelische Armee die Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen – rund 1,1 Millionen Menschen – sowie internationale Organisationen auf, das Gebiet binnen 24 Stunden zu verlassen. Die Hamas rief hingegen die Bevölkerung zum Bleiben auf – und hinderte sie an der Flucht, wie die israelische Armee berichtet. Die Vereinten Nationen schätzten die Evakuierung als unmögliches Unterfangen ein. Jan Egeland, ehemaliger sozialdemokratischer Außenminister Norwegens und heutiger Präsident des Norwegian Refugee Council, sowie das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), Hüter des humanitären Völkerrechts, bezeichneten die Anordnung als völkerrechtswidrig.

 

Die Frist zur Räumung des nördlichen Gazastreifens wurde vonseiten des israelischen Militärs nach internationalen Protesten um einige Stunden verlängert, die Evakuierungsaufforderung jedoch wurde nicht zurückgenommen. Bereits vor der Aufforderung befanden sich nach UN-Angaben400 000 Menschen innerhalb des Küstenstreifens auf der Flucht – nur eine begrenzte Zahl konnte Schutz in UN-Einrichtungen oder Krankenhäusern finden. Mittlerweile haben sich weitere Hunderttausende auf den Weg in den südlichen Gazastreifen gemacht. Doch Unterbringung, Schutzräume und Grundversorgung finden sie dort nicht. Die Bombardierungen dauerten auch im südlich gelegenen Chan Yunis an.

 

Es ist zu befürchten, dass es im weiteren Kriegsverlauf und insbesondere nach Beginn der Bodenoffensive zu sehr hohen Opferzahlen kommt. Das liegt auch daran, dass im Gazastreifen eine Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen nahezu unmöglich ist. Grund ist die dichte Bebauung, die Tunnel der Hamas, die auch unter Wohnhäusern verlaufen, sowie die zivilen Einrichtungen der Hamas und anderer militanter Gruppen, die sich in Wohn- und Bürogebäuden befinden. Von palästinensischer Seite besteht zudem die Befürchtung, dass es im Zuge der Kampfhandlungen zu dauerhaften Vertreibungen kommen könnte.

 

Israel hat das Recht und die Verpflichtung, seine Bevölkerung vor weiteren Angriffen militanter Gruppen zu schützen. Das Selbstverteidigungsrecht existiert allerdings nicht losgelöst, sondern in Abhängigkeit von den allgemeinen Menschenrechten und dem ius in bello, dem „Recht im Krieg“. Dieses setzt besonders in der Vierten Genfer Konvention den Mitteln und Methoden der Kriegsführung im Hinblick auf den Schutz der Zivilbevölkerung enge Grenzen. Wichtig ist dabei: Unabhängig davon, wer den bewaffneten Konflikt ausgelöst hat und wer Angreifer beziehungsweise Verteidiger ist, gelten für alle Beteiligten die Regeln des humanitären Völkerrechts.

Die Selbstverpflichtung der Bundesrepublik Deutschland auf die Sicherheit des Staates Israel, die Abscheu über die Gräueltaten der Hamas und die Zustimmung zu Israels Zielsetzung, die Hamas zu zerschlagen, sind nachvollziehbar. Sie entheben aber Deutschland nicht seiner völkerrechtlichen Pflicht, sich für den Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza einzusetzen und alles dafür zu tun, Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu verhindern.

 

In diesem Sinne sollte die Bundesregierung jetzt vordringlich ihre engen Beziehungen zu Israel (und anderen regionalen Akteuren) nutzen, um darauf hinzuwirken, die Geiseln durch Verhandlungen zu befreien, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu schützen und eine regionale Eskalation abzuwenden. Insbesondere sollte sie gegenüber Israel darauf drängen, die Bevölkerung Gazas durch die Einrichtung von Schutzzonen effektiv zu schützen. Es sollte ferner deutlich gemacht werden, dass die in Nord-Gaza verbliebenen Zivilistinnen und Zivilisten ungeachtet der Aufforderung, die Region zu verlassen, den vollen Schutz des humanitären Rechts genießen und dass das Verbleiben in der Region sie nicht zu legitimen Zielen macht.

Krankenhäuser und andere zivile Infrastruktur sowie humanitäre Helferinnen und Helfer müssen geschützt werden. Es braucht uneingeschränkten humanitären Zugang, so dass lebensrettende Soforthilfe geliefert werden kann (in Form von Trinkwasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff für die Generatoren der Krankenhäuser). Des Weiteren müssen humanitäre Korridore eingerichtet werden, die die Evakuierung etwa von dringenden medizinischen Fällen und ausländischen Zivilisten erlauben. Wenn Israel humanitären Zugang nicht vom eigenen Territorium gewährleistet, sollte darauf gedrungen werden, ihn über den Grenzübergang Rafah von Ägypten aus zuzulassen, in enger Zusammenarbeit mit den UN und dem Internationalen Roten Kreuz und notfalls auch ohne Zustimmung Israels.

 

Gleichzeitig gilt es auch, über Regionalstaaten wie Ägypten und Katar auf die Hamas-Führung einzuwirken, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten und insbesondere den wahllosen Raketenbeschuss auf Israel einzustellen, die Flucht der eigenen Bevölkerung aus Kampfzonen nicht zu verhindern und das Wohlergehen der Geiseln zu gewährleisten, sowie auf deren Freilassung zu dringen. Deutschland sollte auch seine Expertise für die Umsetzung entsprechender Abmachungen anbieten, wie es schon in der Vergangenheit erfolgreich geschehen ist.

Auch wenn es begründete Befürchtungen vor einer dauerhaften Flucht und Vertreibung gibt: Letztlich muss sich aus humanitärer Sicht Ägypten mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft auch auf eine Massenflucht von Zivilistinnen und Zivilisten aus Gaza vorbereiten, um Leben zu retten. Die Bundesregierung sollte entsprechende Vorbereitungen unterstützen und eine eventuelle Aufnahme finanziell abfedern. Gleichzeitig muss klar in Richtung Israel kommuniziert werden, dass eine Aufnahme im Sinai nur eine temporäre Schutzmaßnahme für die Dauer der Kampfhandlungen sein kann.

Quelle: IPG

Autoren:

Dr. Muriel Asseburg 

Berlin

Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Konstantin WitschelBerlin

Dr. Konstantin Witschel ist Referent für Israel, Palästina, Syrien, Jemen und Frieden und Sicherheit im Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).


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